
Diagnose und Behandlung
Enuresis nocturna
Rund 15% aller 5-Jährigen und 5% aller 10-Jährigen bzw. mindestens 60.000 Kinder leiden in Österreich unter dem Problem Enuresis nocturna. Und mit ihnen ihre Familien. Damit ist Enuresis nach Asthma die zweit häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter. Doch nicht einmal ein Drittel aller betroffenen Kinder wird adäquat therapiert – obwohl ausgezeichnete und rasche Hilfe möglich ist.
Enttabuisierung
Bettnässen ist für Eltern und Kinder eine tägliche körperliche und seelische Belastung und dennoch für sehr viele Familien ein Thema, über das man nicht spricht. Aus Gründen der Scham, der Unsicherheit etwas „falsch“ gemacht zu haben und weil die betroffenen Familien meist zu wenig über das Erscheinungsbild Enuresis, seine Häufigkeit und gute Behandelbarkeit wissen, wird vielen Kindern erst sehr spät (oder überhaupt nicht) geholfen. Schweigen, Abwarten und Experimente machen das Problem jedoch nur noch größer.
Durch aktives Aufklären der Eltern, Nachfragen und durch das Aufmerksam-Machen auf das Thema im Wartezimmer mit Broschüren, Postern oder Ähnlichem, können Sie zur Enttabuisierung des Themas beitragen. Im Rahmen der letzten Mutter-Kind-Pass Untersuchung sollte das Thema Enuresis noch einmal angesprochen werden.
Definitionen
Unter Bettnässen versteht man das Einnässen im Schlaf an mindestens zwei Nächten pro Monat nach dem 5. Lebensjahr, wenn das Kind tagsüber trocken ist und keine Harnwegsinfekte oder organische Störungen vorliegen.
Man unterscheidet zwei Formen:
- Primäre Enuresis: Das Kind war noch nie trocken (ca. 80% der Fälle)
- Sekundäre Enuresis: Das Kind beginnt nach mindestens 6 Monaten Trockenheit wieder nachts einzunässen
Basisdiagnostik
1) Anamnese
- Einnässsymptomatik: seit wann, wie oft
- Miktionsanamnese: Miktionshäufigkeiten, Drangsymptomatik, Stakkatomiktion
- Trinkgewohnheiten: Trinkmengen, Trinkzeitpunkt, vor dem Schlafengehen?
- Stuhlanamnese: Obstipation, Enkopresis
- Vorerkrankungen: Harnwegsinfekte
- Sozialanamnese
- Familienanamnese: weitere Erkrankungsfälle in der Familie, frühere Erkrankung bei den Eltern
- Bewertung der psychologischen Gesamtsituation: Verhaltensauffälligkeiten, Angststörungen, Belastungssituationen
2) Miktionsprotokoll
Das Führen eines Miktionsprotokolls steht im Mittelpunkt der Basisdiagnostik, da die anamnestischen Angaben der Eltern und Kinder meist nicht ausreichen, um die Blasenfunktion und das Trink- sowie Stuhlverhalten der Kinder ausreichend beurteilen zu können. Es soll über mindestens 48 Stunden in einem repräsentativen Zeitabschnitt geführt werden.
Videoanleitung zum Ausfüllen des Miktionsprotokolls (für Eltern)
Videoanleitung zur Interpretation des Miktionsprotokolls
Das ideale Miktionsprotokoll beinhaltet Angaben über
- den Tagesablauf: Wann geht das Kind zu Bett? Wann steht es auf?
- das Trinkverhalten: Wann trinkt das Kind was und wie viel? Wird eine abendliche Flüssigkeitseinschränkung beachtet oder gehört zum Beispiel das abendliche „Milchflascherl“ noch zum Ritual?
- das Miktionsverhalten: Wie häufig entleert das Kind die Blase? Wie groß ist das aktuelle Miktionsvolumen? Macht das Kind auch am Tag gelegentlich in die Hose? Geht das Kind noch einmal direkt vor dem Schlafengehen zur Toilette und entleert die Blase oder geht es mit voller Blase zu Bett? Wann nässt das Kind nachts ein – vor Mitternacht, nach Mitternacht, erst in den frühen Morgenstunden? Nässt es gar mehrfach in der Nacht ein?
- die Nachtharnmenge : Liegt eine nächtliche Polyurie vor?
Zur Bestimmung der Nachtharnmenge werden die Kinder zweimal nächtlich geweckt und zur Toilette geschickt, alternativ kann die Windel abgewogen werden. Die nächtlichen Miktionsvolumina plus die erste Harnmenge nach dem Aufwachen in der Früh geben Auskunft über die Nachtharnmenge. - die Stuhlgewohnheiten: Wie häufig hat das Kind Stuhl? Wie ist die Konsistenz? Neigt das Kind zur Obstipation?
3) Klinische Untersuchung
Bei der klinischen Untersuchung gilt es, etwaige Veränderungen des äußeren Genitals (Labiensynechie, Phimose, Meatusstenose) oder im Sakralbereich (dysraphische Störung, präsakrales Lipom) zu erkennen.
4) Urindiagnostik
Harnstix, Harnsediment, gegebenen¬falls Harnkultur.
5) Sonografie
Beurteilung der Nieren und der ableitenden Harnwege, evtl. Restharnbestimmung.
Therapie
Therapie Grundsatz-Statement: Die diagnostische Abklärung ist als unbedingte Voraussetzung für einen Therapiebeginn bei einer Enuresis anzusehen. Wenn beim ersten Patientenkontakt noch kein Miktionsprotokoll vorliegt, kann auch keine Therapie eingeleitet werden. Die Nichteinhaltung dieser Bedingung ist der häufigste Fehler im Praxisalltag.
Verhaltensmaßnahmen alleine gehen mit Erfolgsraten in der Höhe von 10-20% einher. Die Entscheidung, welche zusätzliche Therapiestrategie zu wählen ist, hängt von den Ergebnissen des Miktions-Trink-Stuhlprotokolls ab.
Desmopressintherapie
Sie gilt als Mittel der ersten Wahl, wenn die Enuresis auf eine zu hohe nächtliche Harnproduktion bei normalem aktuellem Miktionsvolumen zurückgeht (nächtliche Polyurie definiert als die Harnmenge, die mehr als 130% der EBC beträgt). Als Strukturanalogon des ADH bewirkt Desmopressin die Reduktion der nächtlichen Harnproduktion. Die EMA empfiehlt den Einsatz der Melt-Tablette, da diese Darreichungsform ohne Flüssigkeit eingenommen werden kann. Der Vorteil der Desmopressintherapie liegt in einem vergleichsweise raschen Wirkungseintritt (bis spätestens zehn Tage nach Therapiebeginn). Kommt das Kind unter der Einmalgabe nicht trocken über die Nacht, so kann in Einzelfällen die zu verabreichende Dosis aufgeteilt (nicht verdoppelt!) werden: Die erste Hälfte soll verabreicht werden, wenn das Kind schlafen geht, die zweite Hälfte, wenn die Eltern schlafen gehen. Die Wirksamkeit der Desmopressintherapie in dieser Indikation ist durch Studien mit höchster Evidenz gesichert. Die Therapie hat den Empfehlungsgrad A entsprechend den internationalen Kriterien der WHO erhalten. Neue Studien weisen darauf hin, dass sich das Ausschleichen der Behandlung positiv auf das Rückfallrisiko auswirkt. Die direkte Ansprechrate auf die Desmopressintherapie beträgt 91%. Je nach Studie und Anwender werden die Erfolgsraten auf 75-85% geschätzt.
Die Betroffenen und Angehörigen (Eltern) müssen auf die mögliche Nebenwirkung der Wasserintoxikation hingewiesen werden. Die Einhaltung der Einnahmevorschriften muss sichergestellt sein.
Besondere Vorsichtsmaßnahmen im Rahmen einer Desmopressintherapie
Desmopressin ist als grundsätzlich sicheres Medikament mit einem geringen Nebenwirkungspotential und gutem Wirkungsprofil einzuschätzen. Dennoch wurden in der Vergangenheit, als Desmopressin noch in Form des Nasensprays appliziert wurde, Fälle von Wasserintoxikationen und Hyponatriämie als seltene, aber schwere Nebenwirkung berichtet. Daher ist der Nasenspray für die Verwendung bei Enuresis nicht mehr zugelassen. Bisher gibt es in Österreich keine Berichte über derartige schwerwiegende Nebenwirkungen durch die orale Tablette oder die Schmelztablette. Nachdem aber Desmopressin unabhängig von der Darreichungsform dieses unerwünschte Potential besitzt, erfordert die Verordnung einer solchen Therapie besondere ärztliche Sorgfalt und umfassende Aufklärung der Patienten und deren Angehörigen (Eltern). Es ist sicherzustellen, dass die vorgeschriebenen Regeln zum Trinkverhalten im Rahmen einer Desmopressintherapie tatsächlich eingehalten werden. Die Patienten und deren Angehörige (Eltern) sind anzuweisen, beim Auftreten jedweder Symptome, die auf eine mögliche Wasserretention hinweisen (Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Gewichtszunahme, Krämpfe), unverzüglich ärztliche Betreuung in Anspruch zu nehmen.
Die Ursache für das Auftreten dieser Nebenwirkung kann in individuellen Schwankungen der Desmopressin-Halbwertszeit und/oder in der Missachtung der Trinkvorschriften liegen. In 50% der berichteten Fälle traten die Symptome innerhalb der ersten drei Behandlungswochen auf; die Hälfte der Patienten befand sich im Alter zwischen fünf und sieben Jahren.
Anticholinerge Therapie
Eine anticholinerge Therapie als Monotherapie bei einer Enuresis reicht meist nicht aus. Sie kann bei Bedarf in Kombination mit einer Desmopressingabe eingesetzt werden.
Kombinationstherapien
Alarmtherapie + Desmopressin
Anticholinerge Therapie + Desmopressin
Findet man im Miktionsprotokoll sowohl ein vermindertes aktuelles Miktionsvolumen als auch eine erhöhte nächtliche Urinproduktion oder hat die alleinige Desmopressingabe bei erhöhter nächtlicher Urinproduktion nicht zum gewünschten Erfolg geführt, so kann die Anwendung einer Desmopressingabe in Kombination mit einer Alarmtherapie oder mit Anticholinergika in Erwägung gezogen werden. Die Wirksamkeit dieser Kombinationstherapie ist durch Studien abgesichert. Die Therapie hat den Empfehlungsgrad A entsprechend den internationalen Kriterien der WHO erhalten.
Alarmtherapie
Die Alarmtherapie ist als Mittel der ersten Wahl anzusehen, wenn die Ursache für die Enuresis laut Miktions-Trink-Stuhlprotokoll in einem zu geringen aktuellen Miktionsvolumen bei normaler nächtlicher Harnproduktion liegt. Im Rahmen der Therapie löst jedes nächtliche Einnässen einen Alarm aus (Klingelmatratze, Klingelhose) und sollte zum Erwachen des Kindes führen. Insbesondere zu Beginn der Therapie werden die Kinder durch den Alarmton nach dem Einnässen nicht von alleine wach, weshalb die Unterstützung der Eltern notwendig ist. Durch Konditionierung lernen die Kinder, bei Eintritt eines Miktionsreizes die Miktion zu unterdrücken und weiterzuschlafen und/oder bereits vor dem Einnässen aufzuwachen. Erfolgversprechend ist diese Form der Behandlung ab einem Lebensalter von sieben bis acht Jahren. Die Alarmtherapie hat den Empfehlungsgrad A entsprechend den internationalen Kriterien der WHO erhalten. Ihre Wirksamkeit bei dieser Indikation ist durch Studien mit höchster Evidenz gesichert. Die Alarmtherapie ist über einen längeren Zeitraum durchzuführen (drei bis sechs Monate), die Wirkung tritt erst verzögert ein. Der Vorteil dieser Behandlungsform liegt in der geringeren Gefahr für einen Rückfall nach Therapieende. Es kann mit einer Erfolgsrate von 60-70% gerechnet werden.
Die Behandlungsstrategien sind richtungsweisend zu verstehen, wie sich jedoch die Therapie des einzelnen Patienten letztlich gestaltet, liegt im Ermessen des behandelnden Arztes.
Stellenwert der Klinischen Psychologie
Indikationen für eine klinisch-psychologische Behandlung im Rahmen der Enuresis-Therapie sind einerseits sehr großer sekundärer Leidensdruck (z.B. Hänseln durch Mitschüler) und andererseits das Vorhandensein von Faktoren, welche die Symptomatik aufrechterhalten (möglicher sexueller Missbrauch, familiäre Dynamiken, Konflikte im Umfeld, ADHS). Eine spezifische klinisch-psychologische „Behandlung“ des Einnässens gibt es in dem Sinne nicht, dies ist aber auch nicht das Ziel der Intervention. Von der Problematik der Enuresis bzw. Inkontinenz des Kindes ist meistens die ganze Familie betroffen; zum Zeitpunkt der Vorstellung haben die Angehörigen oft schon einen langen Leidensweg hinter sich. Der Leidensdruck kann enorm sein und sich (unter Umständen äußerst unausgewogen) auf verschiedene Familienmitglieder aufteilen. Unbehandeltes oder zu spät behandeltes Bettnässen führt zu sozialem Fehlverhalten der betroffenen Kinder.
Zu den typischen Interventionen zählen die Stützung der Beteiligten in Einzelgesprächen und der Versuch der Neupositionierung der Rollen einzelner Familienmitglieder im Rahmen von Gruppensitzungen. Häufig lastet die Verantwortung für die Situation auf einer Person (meistens der Mutter). Oft ist es zielführend, dem Kind je nach individuellem Entwicklungsstand mehr Eigenverantwortung zu übertragen, aber auch andere Angehörige verstärkt einzubinden. Gestörte Kommunikations- und Beziehungsmuster (z.B. übermäßiges Verwöhnen) werden thematisiert, ebenso soziale Kompetenzen des Kindes, mögliche Konflikte mit Einfluss auf die Symptomatik und familienübliche Stressbewältigungsmuster. Eigenständigkeit, Selbstwertgefühl und Ablösung sollen gefördert werden. Bei erfolgreicher Intervention ist häufig eine substanzielle Motivationssteigerung die Folge.
Einsatzmöglichkeiten alternativmedizinischer Methoden
Für die wachsende Inanspruchnahme komplementärer und alternativer Behandlungsmöglichkeiten ist das zunehmende Bewusstsein der Eltern in dieser Hinsicht maßgeblich, ebenso wie der Wunsch, im Gesundheitsmanagement ihrer Kinder proaktiv tätig sein zu können, und die Annahme, dass diese Methoden weniger Nebenwirkungen aufweisen. Derzeit existiert auf dem Level strenger EBM-Kriterien keine ausreichende Evidenz für einen eindeutigen, nachweisbaren und reproduzierbaren Effekt untersuchter Komplementärmethoden in der Behandlung der Enuresis.
Umgekehrt gibt es aber auch keine ausreichenden Daten, die eine Ineffektivität demonstrieren. Es findet sich schwache Evidenz für Effekte von Hypnose, Akupunktur und Chiropraktik; praktisch keine Evidenz liegt für diätetische Maßnahmen, Faradisation und Homöopathie vor. Die publizierte Datenlage unterstützt den Einsatz dieser Verfahren nicht, bis prospektive, kontrollierte, randomisierte Studien auf wissenschaftlicher Basis mit ausreichender Fallzahl einen definitiven Wirksamkeitsnachweis erbringen können.
Mehr zum Thema finden Sie unter Literatur und Expertentipps.
Erstellt mit freundlicher Unterstützung unseres wissenschaftlichen Beirats.